Samstag, 3. Dezember 2016

Bonner General Anzeiger. Wie Carl Lutz 62.000 Menschen rettete. Artículo en un periódico de Bonn: Cómo Carl Lutz salvara la vida de 62.000 personas.

 

 

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Wie Carl Lutz 62.000 Menschen rettete

  • Ein Kosmopolit und Menschenfreund: Der Schweizer Diplomat Carl Lutz in den Trümmern der britischen Botschaft in Budapest.

  • Foto: Herbig

    Carl Lutz vor dem Eingang zum sogenannten „Glashaus“.

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30.11.2016 Zivilcourage in Zeiten der Unmenschlichkeit: Ein Schweizer Vizekonsul im von den Nazis kontrollierten faschistischen Ungarn verhalf Zehntausenden Juden zur Flucht.

Da sitzt ein streng gescheitelter Herr im Anzug inmitten von Trümmern des Zweiten Weltkriegs. Hut und Mantel hält er wie zum Abschied schon im Arm. Budapest ist gerade von den Russen vereinnahmt worden. Die Tapeten der ehemals herrschaftlichen britischen Botschaft fleddern von den Wänden. Und der Herr in den Lackschuhen sinniert offensichtlich über das, was er in diesem zerbombten Haus, in dieser zerstörten Stadt zurücklassen wird. Es ist fraglos eine Inszenierung, dieses symbolische Foto von 1945. Doch es erzählt auch eine unglaubliche, aber wahre Geschichte.

Ausgedacht hat sich die Komposition des Bildes genau der Herr, der da auf dem Mauerrest posiert. Er ist selbst Hobbyfotograf. Er hat in den vergangenen Jahren das Grauen der Nazidiktatur in der ungarischen Metropole für die Nachwelt festgehalten. Aber er hat auch selbst versucht, sich gegen den Holocaust zu stemmen. Er war einer der Helden des humanitären Europas, die sich nicht in die Mordmaschinerie eines von Rassenhass vergifteten Kontinents einbauen ließen: Dieser geschniegelte und gebügelte Herr hieß Carl Lutz. Er rettete während des Zweiten Weltkriegs als Schweizer Vizekonsul mehr als 62.000 ungarischen Juden das Leben.

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Die Journalistin Erika Rosenberg, Tochter von nach Argentinien geflohenen Juden, hat über den so gut wie unbekannten Schweizer Helden ein Buch geschrieben: „Das Glashaus“. Es setzt den in den Budapester Trümmern sitzenden Herrn im Anzug in eine Reihe mit den ansonsten immer zuerst genannten Rettern: Raoul Wallenberg und Oskar Schindler. Zumal die Autorin herausfand, dass die geniale Idee, Tausenden verfolgten Juden mit gefälschten Passierscheinen die Flucht zu ermöglichen, gar nicht auf den charismatischen schwedischen Kaufmann Wallenberg, sondern auf diesen biederen Schweizer Diplomaten Carl Lutz zurückging.

Der war in der Endphase des Krieges von seinem Arbeitgeber auf dem Papier zwar nur als zweiter Mann nach Budapest entsandt worden. Der 49-jährige Lutz trat mit seiner Ehefrau Gertrud zudem unscheinbar und bescheiden auf. Als junger Student war der tiefgläubige Christ sogar für den ursprünglich erstrebten Pfarrerberuf zu schüchtern gewesen.

Und nun, in der Hölle von Budapest, aus der die 500.000 Juden Ungarns alle in die Todeslager geschickt werden sollten, fand dieser so korrekt erscheinende Herr plötzlich in Eigeninitiative einen Weg – in Form eines raffinierten Schutzbriefsystems, das Verfolgte unter die diplomatischen Fittiche der Schweiz stellen konnte.

Horror und Abscheu

Lutz ging dafür in den Botschaften und Behörden Budapests ein und aus. Nach für ihn als Horror empfundenen Verhandlungen mit den deutschen und ungarischen Behörden spürte er ohnehin nur noch Abscheu: Er habe einfach immer noch keine Erklärung „für die Grausamkeit und für die in der Geschichte einzig dastehende Ausrottung von Millionen Menschen“, schrieb er später nieder. „Es ist mir unbegreiflich, dass gebildete Leute mit Universitätsdiplomen sich verbündeten, um planmäßig Völkermillionen zu vernichten.“ Er, Carl Lutz, wollte vor Ort in Budapest möglichst Sand ins Getriebe der Mordmaschinerie geben. Er wollte heimlich, aber nachdrücklich mit Hilfe von Gleichgesinnten und des jüdischen Widerstands im Kleinen dem Holocaust die Stirn bieten. Auch Raoul Wallenberg kam vorbei, um das von Lutz ausgeheckte System mit zu nutzen.

Warum ließen die Nazis diesen blassen Diplomaten gewähren? Warum zog dieser Schweizer Vizekonsul selbst bei Treffen mit Adolf Eichmann nicht den Kürzeren? Eichmann, der gnadenlose Vollstrecker der „Endlösung“, sei einfach überrascht gewesen, dass jemand überhaupt auf die Idee gekommen sei, mit ihm über das Schicksal von Juden zu verhandeln, berichtet Buchautorin Rosenberg.

Sie hat diverse bislang unveröffentlichte Dokumente ausgewertet und mit Agnes Hirschi, der Stieftochter des 1975 verstorbenen Carl Lutz, gesprochen. Eichmann, dieser monströse Schreibtischtäter, habe seinen Schweizer Gesprächspartner in Budapest irgendwann entnervt mit Moses verglichen, der sein Volk retten wollte, indem er es aus Ägypten führte. Nur dass Lutz weder Jude noch Ungar war, sondern Kosmopolit und Menschenfreund – und kein Rassenhasser.

Das "Glashaus"

Der Langmut der Nazis mit diesem beharrlichen Beamten resultierte sicher auch aus Weisungen, die aus Berlin gekommen waren. Die Nazigrößen vor Ort sollten gerade diesem Carl Lutz doch im Rahmen des Möglichen entgegenkommen: Der Schweizer habe sich zuvor in Vertretung deutscher Interessen in Palästina Verdienste erworben. Man vertraute diesem unscheinbaren Mann. So verteilte Lutz also fleißig seine Schutzbriefe, die auf sogenannten „Palästina-Zertifikaten“ fußten und zur Ausreise ins britisch kontrollierte Palästina berechtigten. Juden mit diesen Ausweisen durften also nicht nach Auschwitz in den Tod geschickt werden.

Bald war seine Gesandtschaft Tag und Nacht von verzweifelten Menschen belagert. Lutz gab schließlich ein Vielfaches der ihm zustehenden Schutzbriefe aus: Er erweiterte, als die Lage für immer mehr Juden aussichtslos wurde, sein System. „Meine Idee war, Kollektivpässe von je 1000 Personen zu erstellen“, schrieb er später nieder. Bauernschlau hatte er Eichmann und Konsorten hinters Licht geführt. Jetzt riskierte er Kopf und Kragen, indem er die Bewilligung erkämpfte, „auch jedem Juden, dessen Namen im Kollektivpass eingetragen war, einen Schutzbrief auszustellen.“ Zur Abwicklung hatte Lutz das sogenannte „Glashaus“, ein ehemaliges Büro- und Wohngebäude in Budapest, mit einer speziellen Auswanderungsabteilung eingerichtet.

Dort und in anderen von ihm angemieteten Räumlichkeiten stellten bald auch mehr als hundert jüdische Freiwillige im Schichtbetrieb falsche Papiere her. Es war ein Kampf gegen die Zeit. Denn als in Budapest die sogenannten Pfeilkreuzler, einheimische Nazibanden mit dem leicht abgeänderten Hakenkreuz als Symbol, die Macht an sich rissen, erreichte der Terror im Land seinen Höhepunkt. Auf den Straßen war die Hatz auf Juden freigegeben. Am Ufer der Donau wurden Tausende erschossen.

„Bald waren auch die 50.000 Schutzbriefe vergriffen, und noch immer flehten Tausende vor unseren Toren um solche lebensrettende Zertifikate. Ich konnte das Kontingent unmöglich überschreiten, ohne den Zorn der Behörden heraufzubeschwören und die ganze Aktion zu gefährden“, erinnerte sich Carl Lutz später. Jetzt musste er mit seiner Frau für die ungarischen Pfeilkreuzler „gute“ und „schlechte“ Schutzbriefe sichten und Menschen aussortieren: Die einen durften überleben, die anderen gingen in den Tod. „Wer eine Seele rettet, rettet die ganze Welt“, hat sich das Ehepaar Lutz damals immer wieder gesagt. Aber ein Leben lang hätten sie diese erzwungenen Entscheidungen als „seelische Tortur“ belastet.

"Nie werde ich diese verängstigten Gesichter vergessen"

„Herzzerreißende Szenen spielten sich ab. Fünftausend dieser unglücklichen Menschen standen in Reih und Glied, frierend, zitternd, hungernd, mit armseligen Bündeln beladen. Nie werde ich diese verängstigten Gesichter vergessen. Immer wieder musste die Polizei eingreifen, weil mir die Leute die Kleider beinahe vom Leibe rissen, indem sie ihre Bitten vortrugen.“ Es sei das letzte Aufflackern des Lebenswillens vor der Resignation gewesen. Diese Opfer seien vor seinen Augen mit Hundepeitschen geschlagen und mit blutenden Gesichtern in den Schnee geworfen worden. Wenn er versuchte zu intervenieren, sei er mit Waffen der sadistischen Pfeilkreuzler bedroht worden, so Lutz.

Ein paar Monate später saß dieser Schweizer Diplomat also fürs Foto in den Ruinen der britischen Botschaft, wohin er Abertausende Juden hatte retten können. Sein eigener Weg führte zurück in die Heimat – wo man ihm über Jahre vorwerfen sollte, in Budapest seine Kompetenzen überschritten zu haben. Anerkennung wurde Lutz sein Leben lang nicht mehr zuteil. Verbittert und einsam starb er 1975. Und erst zwanzig Jahre später würdigte der Schweizer Bundespräsident das Handeln dieses Mannes, der gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Europa und speziell auch in Victor Orbáns Ungarn nicht vergessen werden sollte.

Carl Lutz war mit seinen diplomatischen Fähigkeiten und vor allem mit Zivilcourage und einer ethisch begründeten Mitverantwortung für die Flüchtlinge im entscheidenden Moment seines Lebens der richtige Mann am richtigen Ort. Andere wie etwa Adolf Eichmann sollten sich später auf ihre Pflicht als Ausführende von Befehlen berufen, um sich von Schuld freizusprechen. Der kleine Schweizer Vizekonsul machte jedoch vor, wie man auch als Befehlsempfänger am Schreibtisch Zehntausende Menschenleben retten kann.

Erika Rosenberg: Das Glashaus – Carl Lutz und die Rettung ungarischer Juden vor dem Holocaust. Herbig Verlag, 224 S., 22 Euro (Ebba Hagenberg-Miliu)