Dienstag, 1. August 2017

Vergessener Held der Menschlichkeit Erika Rosenbergs Buch „Das Glashaus“ über den Judenretter Carl Lutz Von Marcus Christoph Buenos Aires (AT) - „Die meisten wissen nicht, wer Carl Lutz war.“ Autorin Erika Rosenberg beschreibt ihre Eindrücke von ihrem jüngsten Aufenthalt in der Schweiz, bei dem sie ihr aktuelles Buch „Das Glashaus“ vorstellte. Dabei hat die Hauptperson ihres Werkes etwa 60.000 Juden vor dem Holocaust gerettet. Die Erinnerungskultur ist dem einstigen Diplomaten, der zwischen 1942 und 1945 in Budapest die Abteilung „Fremde Interessen“ an der Schweizer Botschaft leitete, bislang nicht gerecht geworden. Mit einem System von Schutzpässen und Schutzbriefen schaffte er es, die Verfolgten vor der Vernichtung zu bewahren. „Es handelte sich unbestritten um die größte Rettungsaktion im Dritten Reich, und dennoch geriet sie weitgehend in Vergessenheit“, urteilt Rosenberg, die sich bereits in vorangegangenen Büchern mit Judenrettern wie Oskar und Emilie Schindler beschäftigte. Die Autorin, 1951 als Tochter deutsch-jüdischer Eltern in Argentinien geboren, machte sich für ihre Recherchen auf den Weg in die Schweiz, wo sie mit Agnes Hirschi, der Stieftochter von Carl Lutz, ein dreitägiges Interview führte. Rosenberg führte auch Gespräche mit anderen noch lebenden Zeitzeugen wie etwa David Gur, dem Vorsitzenden der Organisation Überlebender des Glashauses, und besuchte die Originalorte in Budapest. Entstanden ist auf dieser Grundlage ein 223 Seiten starkes Buch, in dem die Vita des Judenretters nachgezeichnet und vor allem seine humanitäre Großtat beschrieben wird. Lutz‘ Lebensweg war keineswegs immer gradlinig. 1895 in Walzenhausen (Kanton Appenzell Ausserrhoden) geboren, suchte Lutz in jungen Jahren sein Glück in den USA. Der aus einer Familie frommer Methodisten stammende Schweizer hatte zunächst vor, Pfarrer zu werden. Doch da er zum Predigen zu schüchtern war, änderte er seine Pläne. Er fand als Übersetzer Anstellung bei der Schweizer Gesandtschaft und begann so eine Laufbahn beim diplomatischen Dienst der Eidgenossenschaft. Nach Einschätzung von Erika Rosenberg hat jedoch die frühe religiöse Prägung dazu beigetragen, in Lutz eine ethische Orientierung auf der Grundlage christlicher Nächstenliebe herauszubilden, die sein späteres Handeln beeinflussen sollte. Doch da angesichts der Kriegslage an eine wirkliche Ausreise in den Nahen Osten immer weniger zu denken war, richtete Lutz ein System von 76 „Schutzhäusern“ ein, über denen die Schweizer Flagge wehte. Das wichtigste dieser Art war das sogenannte „Glashaus“, das der jüdische Fabrikant Arthur Weiss in den 1920er Jahren im Bauhaus-Stil entworfen hatte. In dem Gebäude, das durch sein gläsernes Treppenhaus seinen Namen erhielt, waren alleine 4600 Personen untergebracht. Rosenberg beschreibt, wie Lutz mit den Besatzern, vor allem mit dem Reichsbevollmächtigten für Ungarn, Edmund Veesenmayer, aber auch mit Eichmann verhandelte, um Zugeständnisse zu erkämpfen. Sie erläutert auf der anderen Seite die Zusammenarbeit mit zionistischen Organisationen oder anderen Helfern wie dem schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg. Unter dem Strich zeichnet die Autorin das Bild eines Mannes, der sich für seine Mission regelrecht aufopfert. Von 1935 bis 1940 arbeitete Lutz im Schweizer Konsulat in Palästina, damals Völkerbundsmandatgebiet unter britischer Führung. Der Diplomat wurde hier Zeuge der jüdischen Einwanderung und von Konflikten zwischen Juden und Arabern. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde er auch Sachwalter deutscher Interessen in Palästina. Eine Tätigkeit, die ihm einen Vertrauensbonus bei den Deutschen verschaffen sollte, was für spätere Verhandlungen in Budapest nützlich war. In die ungarische Hauptstadt wurde er 1942 versetzt. Dort fiel in seinen Aufgabenbereich die Wahrnehmung britischer und US-amerikanischer Interessen, die aufgrund ihrer Kriegssituation mit dem Deutschen Reich keine eigenen Einrichtungen mehr in Ungarn unterhielten. Das Land der Madjaren stand unter seinem Reichsverweser Miklós Horthy an der Seite Hitler-Deutschlands und beteiligte sich am Krieg gegen die Sowjetunion. Die Autorin beschreibt sehr anschaulich, wie sich die Situation der im Land befindlichen Juden mit zunehmender Kriegsdauer immer weiter zuspitzte. Im März 1944 marschierte die deutsche Wehrmacht in Ungarn ein, da man in Berlin ein Ausscheiden des bisherigen Verbündeten aus dem Bündnis befürchtete. Auch weigerte sich Ungarn, seine jüdischen Einwohner auszuliefern bzw. deren Transport in Lager zuzulassen. Hitler war nicht länger bereit, die - wie er es nannte -„Sabotage der Judenpolitik des Dritten Reichs“ hinzunehmen. Mit der Wehrmacht schickte der deutsche Diktator auch seinen gefürchteten Judenreferenten Adolf Eichmann in die Donaumetropole. Zwischen Mai und Juli 1944 rollten die Züge mit ungarischen Juden nach Auschwitz, ehe Horthy, der noch als Staatsoberhaupt einer Marionettenregierung fungierte, die Transporte auf internationalem Druck hin stoppte. So blieb die jüdische Bevölkerung in der Hauptstadt Budapest noch weitgehend verschont. Doch auch um sie schloss sich die Schlinge immer enger. Spätestens, als sich die faschistische Pfeilkreuzlerpartei unter Ferenc Szálasi im Oktober 1944 an die Macht putschte, waren Juden auf den Straßen der Hauptstadt praktisch Freiwild. Vor dem Hintergrund dieser Schreckenskulisse beschreibt Rosenberg die von Lutz ausgestellten Schutzbriefe als „Licht in dunkler Nacht“. Der Schutz bezog sich formal auf Kontingente jüdischer Auswanderer nach Palästina. Der Schweizer Diplomat Carl Lutz rettete rund 60.000 Juden. ETH Zürich Sonderausgabe zum Schweizer Nationalfeiertag Dienstag, 1. August 2017

in der Schweiz erntete Lutz Kritik und Tadel wegen „Kompetenzüberschreitung“. Eine Kränkung, die Lutz nie verwunden habe, wie Rosenberg festhält. Statt Lob und Anerkennung zu erfahren, schiebt man ihn aufs berufliche Abstellgleis. Erst 1995, 20 Jahre nach seinem Tod, wird Lutz rehabilitiert. „Carl Lutz ist in der Schweiz weitgehend vergessen, weil das Land lange Zeit seine eigene Rolle während der Zeit des Nationalsozialismus nicht aufgearbeitet hat“, meint Rosenberg. Das Buch ist nun ihr Beitrag, einen von der Geschichte zu Unrecht vergessenen Helden der Menschlichkeit zu würdigen. „Das Glashaus“ ist in deutscher Sprache im Herbig-Verlag erschienen. In Argentinien ist es bislang nicht im Handel erhältlich. Interessierte können sich unter Tel. (011) 4823 1217 oder per Mail erosenberg@fibertel.com.ar direkt an die Autorin wenden. Zu Ehren von Carl Lutz hat die Schweizer Botschaft eine Wanderausstellung organisiert, die bereits in Buenos Aires (Juristische Fakultät und Gemeindehaus Amijai), La Plata und San Juan zu sehen war (wir berichteten). Als nächste Ausstellungsorte sind Concordia (Entre Ríos) und das Holocaust-Museum in Buenos Aires geplant.